Am 9. 11. 2015 trafen sich wieder Vertreter von Patenschulen unserer Bäume (Baum der Erinnerung) mit den Schüler/innen der ZPC zum gemeinsamen Gedenken an den Novemberpogrom in der Synagoge der ZPC.
Heuer hielt Herr Carlos Günther die sehr beeindruckende Gedenkrede. Daraus:
„Ich wurde Ostern 1938 in Dieblich eingeschult. […] Ich ging sehr gerne zur Schule, allerdings hatte dies bereits ein gutes halbes Jahr später ein abruptes Ende, denn an jenem berühmt-berüchtigten 10. November 1938 – dem Tag nach der so genannten „Reichskristallnacht“ – wurde ich von der Schule verwiesen.
An diesen Tag kann ich mich noch recht gut erinnern: Als ich morgens in die Schule kam, sagte mir ein Junge aus einer höheren Klasse, offenbar der Sohn eines Nazi-Bonzen: „Heute Früh hat man Deinen Vater weggebracht, in 14 Tagen bist Du und deine Mutter dran“. An diesem Tage fand ein Klassenausflug ans Moselufer statt. Unterwegs wurde gesungen aber ich empfand nach den Vorkommnissen des Morgens überhaupt keine Lust dazu, obwohl ich sonst gerne gesungen habe und in meiner Klasse tonangebend war. Einer der Lehrer die uns begleiteten hat mich sogar aufgefordert mitzusingen. Es war das Lied „Die blauen Dragoner, sie reiten“. Als wir zu Schule zurückkamen, wurde ich von Herrn Fisan, meinem Klassenlehrer zum Direktor geschickt oder gebracht. Ich dachte zunächst, dass mich eine Rüge wegen meiner Weigerung zu singen erwartete, aber auf der Treppe traf ich eine weinende Margot Simon, die zwei Klassen höher war als ich. Sie sagte mir, dass sie soeben von der Schule verwiesen worden sei, es dürften keine Juden mehr die Schule besuchen. Also wurde auch ich nach Hause geschickt, wo ich von meiner Mutter erfahren musste, dass mein Vater tatsächlich am frühen Morgen, als er gerade im Kuhstall beim melken war, von der Gestapo abgeholt und (zunächst) nach Koblenz gebracht worden sei. Am Nachmittag fuhr meine Mutter nach Koblenz um ihm im dortigen Gefängnis zu besuchen und ihm frische Kleidung zu bringen, da er ja noch die Klamotten trug, mit denen er morgens im Stall gearbeitet hatte, durfte ihn aber nicht sehen. Einige Tage später kam er ins KZ Dachau. An diesem 10. November 1938 wurde die Mehrzahl der erwachsenen männlichen Juden im Reich (einschließlich des kurz zuvor annektierten Österreich, das in „Ostmark“ umbenannt wurde) verhaftet und in eines der bereits errichteten Konzentrationslager, insbesondere Dachau oder Buchenwald gebracht. Ich hatte nun wahnsinnige Angst, dass sich auch die zweite Hälfte der Drohung meines Mitschülers bewahrheiten würde und ich in 14 Tagen auch „weggebracht“ würde, habe aber meiner Mutter nichts davon erzählt. Dieses Angstgefühl ist bei mir noch heute ganz bewusst gegenwärtig….“
Wir bedanken uns ganz herzlich bei Herrn Günther für seine Zeit, die er uns Nachgeborenen auch in den Gesprächsrunden nach dem Gedenken widmete.